Ein neues Leben?
Er rannte. Sie rannte. Der Regen prasselte in sein Gesicht. Sie war
von der Sonne geblendet. Seine Füße hämmerten auf die
nasse Straße. Sie hinterließ Spuren im Sand. Rechts und
links von ihm flogen graue Häuserwände vorbei. Sie sah das
blaue Meer neben sich nicht. Er rannte. Sie rannte.
Er war am Morgen losgelaufen. Weg aus seiner kleinen Wohnung im
Keller. Liess sie hinter sich. Liess sein Leben hinter sich. Sein
langweiliges kleines Leben. Bisher war er ein kleiner Niemand. Heute
hatte er achtlos einen kleinen Rucksack gepackt. Hatte die morsche
Holztür zum letzten Mal aufgestoßen. Hatte sich seine
besten Schuhe angezogen. War in den Regen hinausgetreten. Hatte ihn
zum ersten Mal in seinem Leben ignoriert. Ihn aus seinem Bewusstsein
weggefegt. Hatte seinen Job aus seinem täglichen Denken
entfernt. War einfach losgelaufen.
Mittags war sie aufgestanden. War ein letztes Mal auf den Balkon
getreten. Hatte die Aussicht noch einmal genossen. Hatte die
Kreditkarte eingesteckt. Hatte ein letztes Mal gut gegessen. Sich vom
Koch verabschiedet. Es ging dann hinaus in den Garten. Das metallene
Gartentor öffnete sich ein letztes Mal für sie. All der
Luxus lag hinter ihr. Unwiederbringlich verloren, aus ihrer Zukunft
getilgt. Barfuß lief sie los. Direkt zum Strand. Der Sonne
entgegen. Einfach vorwärts. Das bisherige hinter sich
lassend. Für immer.
Etwas erwartete ihn. Am Ende seines Weges. Etwas vollkommen
neues. Etwas wunderbares. Etwas wertvolles. Etwas, das sein bisheriges
Leben unvergessen machen würde. Er verließ seinen
schmutzigen Wohnblock. Bahnte sich einen Weg durch die billigen
Viertel. Grau war die vorherrschende Farbe. Grau, gemischt mit
schmutzigbraun und schmutziggrün. Bei dem Wetter war alles
frei. Kein Mensch auf der Straße. Nur ein paar Autos. Kisten, so
klapprig und billig wie sein Leben. Das Leben, was jetzt hinter ihm
lag.
Sie suchte es. Das neue. Das unfassbare. Das unbezahlbare. Kein Geld
der Welt konnte es aufwiegen. Geld hatte sie genug gehabt. Die
Privatstrände durcheilte sie schnell. Kam zu den
öffentlichen Bereichen. Ein buntes farbenfrohes Fest erwartete
sie dort. Menschen und Dinge in allen Farben. Geld, rot, blau,
grün, violett, weiß. Einfach alles. Der Sonnenschein lockte
die Menschen. Glückliche Menschen. Menschen, denen es an nichts
mangelte. Überfluß, so wie ihr bisheriges Leben. Das Leben,
was jetzt hinter ihr lag.
Er war Metallarbeiter gewesen. 45 Stunden in der Woche. Für einen
Hungerlohn. Die Firma verlegte ihre Produktion. Ins Ausland, in
Billiglohnländer. Freie Gedanken interessieren
niemanden. Niemanden in seinem Betrieb. Keinen Chef, keinen
Kollegen. Man hatte zu funktionieren. Nicht mehr, nicht weniger. Sein
Job stand auf der Kippe.
Gearbeitet hatte sie noch nie. Reiche Eltern, reiche Familie. Schule,
dann Studium. Natürlich nur an Eliteschulen. Sie kannte es nicht,
das Arbeiten. Niemand um sie herum kannte es. Man gab sich dem Luxus
hin. Liess die Gedanken kreisen. Doch sie kreisten nur um
eines. Besitz, Reichtum, die ewig gleichen Kreise.
Sie kamen sich näher. Er lief nach Norden. Sie lief nach
Süden. Der Abstand schrumpfte. Das erste Mal getroffen hatten sie
sich vor drei Jahren. Irgendwo in der Stadt. Hatten seitdem Briefe
geschrieben. Heute morgen merkte er es. Er musste sie
wiedersehen. Unbedingt. Heute morgen merkte sie es. Sie musste ihn
wiedersehen. Unbedingt. Die Sehnsucht aufeinander war
gewachsen. Gewachsen in all der Zeit. Gewachsen mit jedem Brief, mit
jedem Wort. War war schon das eigene Leben. Was war der Job? Was war
der Luxus. Am anderen Ende der Stadt wartete jemand. Darum lief er
los. Darum lief sie los. Telefon hatte er nicht. Loslaufen war die
einzige Alternative. Die Alternative zu weiteren Briefen.
Er kam am Bahnhof vorbei. Sie kam am Bahnhof vorbei. Er im Osten. Sie
im Westen. Er lief weiter, wie von Sinnen. Sie lief weiter, wie von
Sinnen. Er wollte zu ihr. Sie wollte zu ihm. Er erreichte den
Strand. Sie erreichte das billige Stadtviertel. Er erreichte ihr
Haus. Sie erreichte seine Wohnung. Sie war weg. Er war weg. Für
immer. Für immer. Einfach weg. Einfach weg.
Sie hatten sich verpasst. Hatten alles hinter sich gelassen. Hatten
ihr altes Leben aufgegeben. Hatten es abgebrochen. Und sie hatten sich
verpasst. Zurück konnten sie nicht. Oh nein, zurück ging es
nicht. Nicht für ihn. Nicht für sie. Sie waren wieder
allein. So wie vorher.
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