FLUCHT
Er rannte. Rannte davon. Immer weiter. Die schmutziggrauen
Häuserwände flogen rechts und links an ihm vorbei. Der
Gewitterregen prasselte ihm ins Gesicht. Wasser lief seine Wangen
herunter. Seine Füße schienen über das glitschige
Pflaster zu fliegen. Außer seinem keuchendem Atem, dem Regen und
seinen Fußtritten war kein Geräusch zu hören. Die
Straße war wie ausgestorben.
Er rannte bereits seit einer Stunde. Ein Ziel war nicht zu
erkennen. Er rannte einfach fort. Fort von dem Ort, an dem er
überstürzt aufgebrochen war. Barfuß. Nur mit einer
Short und einem T-Shirt bekleidet.
Gestern war alles anders, er war ein erfolgreicher Student, der gerade
sein Examen mit Auszeichnung bestanden hatte. Gestern war die
Examensparty, auf der sein ganzer Abschlussjahrgang war.
Er war der Jahrgangsbeste, denn er hatte seit einem Jahr an nichts
anderes mehr gedacht als an sein Studium und an seine
Abschlussprüfungen, hatte gelernt, gelernt, gelernt. Ja, er
würde jeden Job annehmen können, den er haben wollte,
Angebote gab es bereits. Er würde viel Geld verdienen
können, er würde ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft
werden. Er würde seine Freundin heiraten, sie würden eine
Familie gründen und ein angenehmes Leben führen. Sie war
Studentin, im gleichen Fach wie er. Vielleicht würden sie eines
Tages nach New York ziehen. New York, der Traum, den wohl jeder hier
in Neu-England hatte. Das waren seine Gedanken, noch vor 24 Stunden,
auf der Party. Er hatte sie mit seinen Kommilitionen geteilt, mit
ihnen über Zukunftspläne geplaudert, Bier getrunken und
Spaß gehabt.
Und jetzt rannte er halbnackt durch die Straßen. Durch ein
Gewitter. Er war wie von Sinnen. Während er rannte, zog sein
Leben an ihm vorbei. Geboren als Sohn einer angesehenen
Familie. Primary School, High School, College und schliesslich der
Abschluss auf der Eliteuniversität. Nebenbei war er ein passabler
Hockeyspieler. Das Vergnügen mit seinen zahlreichen Freunden und
Kumpels kam nie zu kurz. Kurzum: von seinem Leben träumten viele
in seinem Land. Niemand würde verstehen, warum er weglief.
Es war vor wenigen Stunden geschehen. Er hatte seine Sachen gepackt,
um den Campus zu verlassen und die nächste Station seines Lebens
aufzusuchen. Seine Freundin hatte ihm dabei geholfen. Es war das erste
Mal, dass er einen Menschen wirklich liebte. Oh, sie war nicht die
erste Frau in seinem Leben. Doch bisher waren die Beziehungen immer
oberflächlich geblieben. Man ging zusammen aus, man hatte
Spaß miteinander, aber mehr war da nicht. Es war OK, viele
andere Leute an der Uni machten es so. Und dann lernte er sie
kennen. Sie war zwei Jahrgänge unter ihm. Sie kam aus dem
mittleren Westen, ihre Eltern waren einfache Leute und sie war die
erste aus ihrer Familie, die es an eine Universität geschafft
hatte. Sie hatten sich beim Sport kennengelernt, zwei völlig
unterschiedliche Menschen. Sie hatten sich getroffen, wieder und
wieder, sie hatten sich viel zu erzählen, jeder aus seinem
Leben. Und nach zwei Monaten hatte es auf einmal gefunkt, sie hatten
beide den Eindruck, füreinander geschaffen zu sein. Es wurde mehr
als eine einfache Beziehung. Es war mehr als alles, was sie je erlebt
hatten. Es war Liebe, Liebe in ihrer Reinform, ja, es war einfach
perfekt. Vielleicht war es zu perfekt um gut zu gehen.
Es passierte beim Packen. Vor zwei Stunden. Er räumte seine
Vitrine aus, sie packte die letzten Bücher ein. Er griff nach dem
Jagdgewehr. Er mochte Waffen nicht, hatte nie geschossen. Das Gewehr
war ein altes Familienerbstück. Es gehörte sich so, dass der
Erstgeborene es mit an die Universität nahm. Er nahm es aus der
Vitrine ... und auf einmal löste sich ein Schuss. Jemand hatte
das Gewehr geladen. Die Kugel flog quer durch den Raum und
traf... Nein! Er konnte nicht daran denken. Eine Stunde lang war er
wie betäubt. Saß auf dem Boden, konnte sich nicht
rühren. Selbst die Tränen waren versiegt. Er hatte alles
verloren. Was war der Abschluss? Was war der Job? Was war das Geld?
Nichts. Alles nichts. Mit dem Schuss schien auch sein Leben
beendet. Er saß da, unfähig, einen Gedanken zu
fassen. Alles vorbei.
Und dann rannte er fort. Rannte aus dem Zimmer. Rannte aus dem
Gebäude. Rannte vom Campus. Rannte aus dem Viertel. Einfach nur
weg. Immer weiter weg. Ziellos. Er hatte ein Leben zerstört. Zwei
Leben zerstört. Was hatte es noch für einen Sinn. Warum
lebte er noch?
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